In einem Prozess rutsche ich in eine Erinnerung als 3-jähriges Mädchen. Meine Mutter schimpft mit mir. In meinem kleinen Verstand formt sich die Frage: „Mama, warum bist du so bös mit mir, wo du mich doch liebhast?“ Die Antwort kommt postwendend, so aggressiv und laut, dass ich mich erschrecke: „Ich tue das aus Liebe!“ Das macht mich nun vollends konfus: Ist Aggression gleich Liebe? Wenn das so ist, dann will ich diese Liebe nicht haben. Ich mache innerlich zu.
Mein erwachsenes Ich sieht, wie die Kleine gelitten hat. Dieses Missverständnis berührt mich so, dass mir die Tränen kommen. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihr den Unterschied zwischen Liebe und Aggression zu erklären. Bei Liebe darf man sich öffnen, bei Aggression darf man sich schützen.
Doch ich habe die Kleine nicht gesehen! Sie hat nämlich im Keller gesessen und geschrien: „Hört mich denn hier niemand, ich bin so allein!“ – 47 Jahre lang.
Ich will sie in den Arm nehmen. Sie wendet sich ab. Ich lasse nicht locker, bleibe einfach neben ihr. Immer in der Meditation nehme ich Kontakt zu ihr auf. Nach ein paar Tagen merkt sie, dass die Tür zum Keller wohl zu war, aber nicht verschlossen. Ihr Zorn auf mich verraucht.
Nun ist der Bann gelöst, und sie kann wachsen. Ich bin neugierig, welche Charakterzüge sie entwickelt. Es ist Verletzlichkeit und der Drang nach Unabhängigkeit.
Inzwischen ist dieser Persönlichkeitsanteil gleich alt wie ich. Seit er vor anderthalb Jahren aufgetaucht ist, habe ich vieles losgelassen, was nicht zu mir passt. Ich habe die Kraft gefunden, nein zu sagen. Mein Mut zur Unabhängigkeit wächst.